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„Industrie 4.0“ zu Lasten guter Arbeitsbedingungen im Care-Sektor

Alle Technologieexperten und Sozialwissenschaftler weltweit sprechen von digitaler Rationalisierungsoffensive, nur eine deutsche Allianz aus Bundesregierung, BMBF,BMWi, Gesamtmetall, IGMetall, acatech und Bitkom/VDMA/ZVEI propagiert „Industrie 4.0“. Digitalisierung wird zwar als treibende Kraft der „Industrie 4.0“ gesehen, aber im Vordergrund des gemeinsamen Interesses stehen die Sicherung des industriellen Produktionsstandortes und der globalen Wettbewerbsfähigkeit insbesondere der Exportindustrie.

„Gesellschaftspolitisch weist dabei die Vision Industrie 4.0 aber eine überraschende Janusköpfigkeit auf. Einerseits stellt sie die traditionelle Produktion ins Zentrum der Vision. … Andererseits wird postuliert, dass die neuen digitalen Technologien diesem traditionellen Sektor einen Entwicklungsschub verleihen werden, der hohe Lösungspotentiale und Zukunftsperspektiven aufweist“ (H. Hirsch-Kreinsen, Industrie 4.0 als Technologieversprechen, Arbeitspapier 46/2016, S. 15).

Nach Hirsch-Kreinsen gibt es zu diesem Zukunftsversprechen technologisch begründete Einwände, da der Innovationsgrad des Konzepts Industrie 4.0 zurückgeht auf das frühere gescheiterte Automatisierungsprojekt Computer Integrated Manufactering (CIM); selbst die Akademie für Technikforschung (acatech) fordere mittlerweile mit „Smart Services“ und „Autonome Systeme“ eine deutliche Erweiterung und Generalisierung des Digitalisierungsdiskurses über den bisherigen industriellen Bezug hinaus (a.a.O., S.25).

Auch der öffentliche Diskussionsprozess „Arbeiten 4.0“, angestoßen vom BMAS, stelle kritische Fragen zu „neuen Formen `guter´ digitaler Arbeit“, die die technikoptimistischen Perspektiven von Industrie 4.0 „konterkarieren“ (a.a.O., S. 22).

Angeregt von dem Dialogpartner Ver.di, die Konzepte für „Arbeiten 4.0“ nicht von der Industrie her zu denken sowie unter den Bedingungen der digitalen Revolution auch die Veränderungsprozesse in den sozialen Dienstleistungsbranchen in den Mittelpunkt zu stellen, widmet das „Weissbuch Arbeiten 4.0“ unter „Gestaltungsaufgaben und mögliche Lösungsansätze“ ein Kapitel dem Thema „Dienstleistungen: gute Arbeitsbedingungen stärken“ (BMAS, Weissbuch Arbeiten 4.0, 2016, S. 128-134).

Einigkeit besteht zu diesem Thema bei allen Diskussionspartnern darin, dass zunehmendes Beschäftigungspotenzial in Erziehungs-, Gesundheits-, Pflege- und Sozialberufen vorhanden ist; „problematisiert werden jedoch die Arbeitsbedingungen und vor allem die Einkommenssituation“ (a.a.O., S.129).

Es folgt ein Zugeständnis an die immer noch neoklassisch argumentierenden Ökonomen und an die neoliberal denkenden Poliker und Manager: „Die Digitalisierung selbst kann zwar über Produktivitätserhöhungen zu steigenden Löhnen im Dienstleistungsbereich führen, doch sind diesbezügliche Möglichkeiten im Bereich der arbeitsintensiven personenbezogenen Dienstleistungen relativ gering ausgeprägt“ (a.a.O., S. 130).

Das BMAS begründet diese eingeschränkte Gestaltbarkeit guter Arbeitsbedingungen im Dienstleistungsbereich zweifach: „Die Gestaltung von Dienstleistungsmärkten …

liegt nur begrenzt in der Verantwortung der Politik, und die Gestaltung der Rahmenbedingungen wiederum nur eingeschränkt im Zuständigkeitsbereich des BMAS“ (a.a.O., S. 130). 

Für die industriellen Arbeiten 4.0 hält das BMBF an der These (arbeits-)politischer Gestaltungsmöglichkeiten fest, da die Rationalisierungseffekte der Digitalisierung uneindeutig sind.

Nach K. Dörre „hängen alle gesellschaftlichen Reform- und Gestaltungsoptionen letztendlich von Kräfteverhältnissen und Machtressoucen ab“ (K. Dörre, Industrie 4.0 – Neue Prosperität oder Vertiefung gesellschaftlicher Spaltungen?, Working Paper 02/2016, Jena, S. 9). Dörre bezweifelt, „dass Mitbestimmung und Gewerkschaften stark genug sind, um menschliche Produktionsintelligenz gegen kostensparende Rationalisierungsstrategien zu verteidigen“ (a.a.O., S. 10). Gerade in vielen Dienstleistungsbereichen und im prekären Niedriglohnsektor fehlen diese Voraussetzungen für arbeitspolitische Gestaltungsstrategien.

Dörre zeigt dies exemplarisch anhand der Austauschbeziehungen zwischen industriellem Exportsektor und bezahlten Sorgearbeiten, die der Herstellung der Arbeitskraft dienen.

„Für die Produktivität der Exportbranchen zahlen die reproduktiven Bereiche jedoch einen hohen Preis. Den exportstarken Branchen mit hohen Anteilen von qualifizierten Beschäftigten im Hochtechnologiebereich steht ein expandierender Sektor mit niedrig entlohnten, instabilen und häufig wenig anerkannten Dienstleistungstätigkeiten gegenüber, dessen Arbeitsproduktivität nach herkömmlichen Maßstäben weit hinter der des industriellen Sektors zurückbleibt“ (a.a.O., S. 10).

Dem heute vorherrschenden einzelwirtschaftlichen Denken in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft erscheint die Aufwertung und Ausweitung einer professionellen Care-Ökonomie primär als Kostenproblem; zudem fehlen der öffentlichen Hand für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen die finanziellen Mittel aufgrund von Privatisierung, Steuerprivilegien einkommensstarker Gruppen und Schuldenbremse.

Schon heute konkurrieren im Pflege- und Gesundheitsbereich private und öffentliche Anbieter über die Lohnkosten mit der Folge von Leistungsverdichtung, Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, Fachkräfteengpässen und Rückverlagerung von Sorgeleistungen in die Privathaushalte.

Die Konkurrenzfähigkeit des industriellen Exportsektors, die durch die digitale Rationalisierung gefördert wird, wird erkauft mit der Abwertung und den Niedriglöhnen der Reproduktions- und Sorgearbeiten. Forderungen nach Verbesserung der Staatsfinanzen durch Beseitigung von Steuerprivilegien sowie nach Umverteilung aus exportstarken Sektoren zugunsten von Humandienstleistungen „gehen weit über die Möglichkeiten von Mitbestimmung und Tarifpolitik hinaus; notwendig wäre ein Bruch mit der Wettbewerbszentrierung und die Durchsetzung eines qualitativ neuen (Re-) Produktionsregimes, das auf selektivem und langsamen, weil auf sozialem Wachstum beruht“ (Dörre, a.a.O., S. 11).

Bereits 2012 sprach C. Heintze in einer Studie für die FES von der „Care-Krise“ und davon, dass das „familienbasierte Pflegesystem angesichts des demographischen Wandels, der Niedriglöhne und der schlechten Arbeitsbedingungen unter Druck gerät. „Während der skandinavische Weg auf dem `High Road´ verläuft, hat die deutsche Politik die Weichen so gestellt, dass die Pflegebranche in den Niedriglohnbereich abgedrängt wurde mit Teilzeit als Regel und einem vergleichsweise geringen Professionalisierungsgrad. Ein problematisches Verständnis von Produktivität hat daran ebenso Anteil wie die Geringschätzung von Tätigkeiten, die abseits dessen liegen, worüber sich die exportorientierte deutsche Wirtschaft definiert“ (C. Heintze, Auf der Highroad – der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem, 2012, S. 40).

Hat dieser Appell Heintzes an Politik, Unternehmen und Verbände, alternative Care-Modelle zu entwickeln und gesellschaftlich-politische Veränderungsprozesse anzustoßen, gefruchtet?

Mit dem Slogan „Wir stärken die Pflege“ ist am 1. Januar 2017 das Pflegestärkegesetz (PSG) in Kraft getreten. „Bedauerlicherweise lässt das PSG die Frage offen, wie und von wem die zusätzlichen Pflegeleistungen überhaupt erbracht werden sollen. Verlässliche Regelungen gegen die mangelhafte Personalsituation fehlen“ (H. Güllemann, Der globale Pflegenotstand, in Blätter, 1/2017, S. 29).

Güllemann zählt auf, dass heute im stationären Bereich 70000 Vollzeitpflegekräfte fehlen, in der Altenpflege 19000 examinierte Fachkräfte; bis zum Jahr 2025 werden in der Pflege zwischen 110000 und 200000 zusätzliche Kräfte gebraucht.

Die politisch gewollte Konkurrenzsituation zwischen privaten und öffentlichen Einrichtungen hat nicht nur zu Einsparungen bei den Personalkosten geführt, sondern auch zu zweistelligen Gewinnmargen bei privaten und chronisch unterfinanzierten offentlichen Krankenhäusern.

Güllemann erklärt auch das Eingeständnis des BMAS, bei den Sorgeleistungen keine guten Arbeitsbedingungen gestalten zu können. „Doch anstatt den Beruf attraktiver zu machen, verwendet die Bundesregierung erhebliche Energien auf die Rekrutierung von Pflegepersonal aus dem Ausland und folgt damit einem fatalen, aber weit verbreiteten Trend: Die Gesundheitssysteme der angelsächsischen Länder sind teilweise schon seit den 1970er Jahren auf zuwandernde Ärztinnen und Pfleger angewiesen“ (a.a.O., S. 30). 

Trotz des „WHO-Verhaltenskodex zur internationalen Rekrutierung von Gesundheitspersonal“ von 2010, der im Interesse der Gesundheitssituation im Ausland zur zurückhaltenden Anwerbung von Pflegepersonal und zur Ausbildung einheimischen Gesundheitspersonals auffordert, werben verstärkt Arbeitgeber, private Agenturen, die Bundesregierung, die Bundesagentur für Arbeit, die GIZ usw. für ausgebildete Pflegekräfte in Ost- und Südeuropa, ja in der ganzen Welt; im Interesse von Export- und Wettbewerbsfähigkeit wächst der globale Pflegenotstand. „Die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerungen in Polen Rumänien und Bulgarien steht angesichts dieses Exodus vor ernsten Problemen. … Besonders beispielhaft für den verheerenden Brain Drain im Gesundheitsbereich steht die Ebola-Epidemie in Westafrika. … Die medizinischen Hochschulen dieser bitterarmen Länder bilden mehr Personal für Großbritannien, die USA und inzwischen auch Deutschland aus, als für ihren eigenen Bedarf“ (a.a.O., S. 31).

Dass das Konzept „Industrie 4.0“ national und global die Care-Krise perpetuiert, wird in der digitalen Technologiedebatte ebenso weitgehend ausgeblendet wie „die fortschreitende Kommodifizierung menschlicher wie außermenschlicher Natur und die Externalisierung der damit verbundenen ökologischen Risiken“ (Dörre, a.a.O., S.12).

Dörres Perspektive geht über den Gestaltungsansatz „neuer Formen guter digitaler Arbeit“ sowie die „privatistische Verengung des neo-industrialistischen Konzepts Industrie 4.0“ hinaus: “Gesellschaften, die im Rahmen einer umfassenden Demokratisierungsstrategie z.B. die Aufwertung von Sorgearbeit und Sorgearbeiterinnen betrieben, wären, weil sie aufgrund der relativen Rationalisierungsresistenz von Sorgearbeiten und Humandienstleistungen nur noch sozial und somit langsam wachsen, etwas qualitativ Neues“ (a.a.O., S. 14).

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