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Optionszeitenmodell für die häusliche Pflege

 

Bericht über Inhalte und Ergebnisse einer Diskussion der Arbeitsgruppe “Häusliche Pflege“ mit Karin Jurczyk und Ulrich Mückenberger

Redaktion: Claudius H. Riegler und Gerhard Finking

Angesichts der Verknappung des Fachkräftepotenzials gewinnt die Diskussion über die Gestaltung der Arbeitszeit eine neue Dynamik. Gewerkschaften fordern unter anderem eine Verkürzung der Arbeitszeit sowie eine Flexibilisierung sowohl im Sinne der Verkürzung als auch im Sinne der Aufstockung der tariflichen Arbeitszeit. Auch ein Thema der Mai-Kundgebungen 2024 war Arbeitszeitverkürzung, und zwar ganz spezifisch im Sinne von „mehr Freizeit“. Für viele Arbeit-Nehmende ist es jedoch mit kürzeren Arbeitszeiten nicht getan. Kindererziehung, die Sorge für pflegebedürftige Angehörige und Weiterbildungserfordernisse des Berufs nehmen oft einen großen Teil der noch verfügbaren Zeit in Anspruch. Pflege und Kindererziehung sind besonders vom Arbeitskräftemangel betroffen. Sorgearbeit nimmt zu – generell, aber auch ausgelöst durch Notfälle (z.B. Corona-Pandemie, Kita-Schließungen und Kündigungen von ambulanten Pflegediensten). Insbesondere berufstätige “Sorge-Arbeitende" sind dadurch hoch belastet. Eine individuelle generelle Reduktion der Arbeitszeit ist oft keine Lösung, weil es für die Einkommensausfälle in der Zeit der Sorgearbeit keinen Ausgleich, sondern nur Unterstützung als Kredit gibt.

Für das Problem der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Sorgearbeit gibt es bisher keinen befriedigenden strukturellen Rahmen. Es werden verschiedene Konzepte diskutiert, darunter auch das Optionszeiten-Modell, das in einem mehrjährigen Forschungsprojekt entwickelt und 2020 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Dieses Modell war Gegenstand der Diskussion.

Vorstellung des Modells

Karin Jurczyk und Ulrich Mückenberger referierten auf Einladung der Arbeitsgruppe „Häusliche Pflege“ zu dem von ihnen erarbeiteten Optionszeiten-Modell. Eine Betonung der Bezüge zu Fragen der häuslichen Pflege durch Berufstätige war gewünscht.

Die Vortragenden haben das Modell in folgender Publikation ausführlich dargestellt:

Jurczyk, Karin und Ulrich Mückenberger (2020): Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf. Abschlussbericht. Forschungsprojekt im Rahmen des „Fördernetzwerks Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung“. München

Die Entwicklung des sog. Optionszeiten-Modells geht auf langjährige sozialpolitische Debatten u.a. bei der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) zurück, an denen Eckart Hildebrandt (WZB) als wichtiger Impulsgeber beteiligt war. Anregungen kamen auch aus der internationalen sozialpolitischen Debatte, u.a. durch das Konzept der sog. Ziehungsrechte, das der schwedische Sozialpolitiker Gösta Rehn entwickelt hat. „Recht auf Zeit“ und „Zeit zum Leben“ für Erwerbstätige waren und sind Bestandteile dieser Überlegungen und Konzeptionen. Ziel ist das Brechen der Dominanz der Erwerbsarbeit und des Normalarbeitsverhältnisses in Gesellschaftspolitik und Arbeitsrecht. Die Überlegungen treffen sich mit Konzepten einer feministischen Zeitpolitik und zielen auf „atmende Lebensläufe“ ab – die längerfristige Lebenslaufperspektive ist dabei wichtig. Es sollen rechtliche und soziologische Grundlagen für das Ganze der gesellschaftlich notwendigen Care-Arbeit geleistet werden.

Ausgehend von der Feststellung, dass die „alte“ Norm von Erwerbsarbeit atypische Arbeitsverhältnisse erst erfindet und dann diskriminiert, ignoriert diese Sorgeerfordernisse, was u.a. zur Familienblindheit des Arbeitsrechts führt. Erwerbsreduktion und -unterbrechung werden demnach bestraft, wobei unterschiedliche und ungleiche Freistellungsregelungen praktiziert werden. Das Optionszeiten-Modell – es wird in einem Schaubild in Jurczyk/Mückenberger 2020 dargestellt – soll zu einer generellen Zivilisierung der Erwerbsarbeit, somit zu einem neuen Lebenslaufregime und damit zu einer neuen Normalität führen. Es ist Ausdruck einer vorbeugenden statt reparativen Sozialpolitik, indem es Zeitwohlstand thematisiert.

Mittelpunkt des Konzepts sind atmende Lebensläufe der Individuen mit Care-Zeitbudgets (Näheres in www.fis-netzwerk.de). Das Konzept sieht einen individuellen Rechtsanspruch auf Optionszeitbudgets von 9 Jahren vor. Es hat 5 Eckpunkte, unterscheidet zwischen „private“ und „social care“ und teilt auf in zweckgebundene Auszeiten für Sorge für Andere ( 6 Jahre Anspruch) – Weiterbildung (2 Jahre Anspruch) – Selbstsorge (1 Jahr Anspruch). Häusliche Pflege mit unterschiedlichen Care-Aufgaben kann demnach über 6 Jahre des beruflich aktiven Lebens geleistet werden. Es werden Anreize für Geschlechtergerechtigkeit gegeben, was aber keinen Automatismus darstellt.

Der langfristige Nutzen des Modells besteht darin, dass es eine Strategie gegen Facharbeitermangel unterstützt, die Arbeitsmotivation und -zufriedenheit erhöht, individuelle und berufliche Sorge-Lücken verringert, die Reproduktion von Arbeitskräften absichert und durch die Umverteilung von Zeit und Care mehr Geschlechtergerechtigkeit erzeugt.

Die finanziellen Hebel des Modells sind:

  • für den Care-Anteil: Lohnersatz durch öffentliche Mittel/Steuern
  • für Weiterbildung: BfA, Unternehmenspool
  • für Selbstsorge: Eigenversorgung, situatives Grundeinkommen

[Das situative Grundeinkommen wird für alle Tätigkeiten gewährt, die innerhalb der Optionszeit geleistet werden. Es wird als negative Einkommensteuer ausgestaltet, ist höher als die Regelsätze bei Sozialhilfe und Bürgergeld und unterstützt damit insbesondere Erwerbslose und Geringverdiener.]

Konkrete Durchführungsbedingungen werden gegenwärtig im Optionszeiten-Labor erprobt, an dessen Aktivitäten die Vortragenden weiter beteiligt sind.

Diskussion

Das Grundanliegen entspricht älteren Fragestellungen, die durch André Gorz und Christel Eckart aufgeworfen wurden, später auch von Nancy Fraser.

Wie sieht die Plausibilität der zeitlichen Planung betr. einer strategischen Aufteilung von Care-Arbeit für Eltern/Kinder aus? Besteht hier die Gefahr einer unguten Konkurrenz von Entscheidungen? – Das erfordert einen anderen Blick auf das eigene Leben im Sinn des Bewusstwerdens der Lebensführung, also eine neue Reflexivität („Was kommt im Lauf meines Lebens auf mich zu?“). Ziehungsrechte sind Freiheitsgrade – ein Gegensatz zu einer eindimensionalen Strategie, für Rente zu sparen. Das führt zu Aushandeln in Familien.

Ein Paradigmenwechsel muss zwangsläufig stattfinden: statt Lebensführung an das Erwerbsleben anzupassen gilt jetzt das Gegenteil (Ivan Illich). Dafür ist aber beispielweise die häusliche Pflege ein neues Thema.

Gewährleistung ist restriktiv definiert – welche Institution könnte Objektivität/Gerechtigkeit garantieren? – In Frankreich gibt es ein Amt für persönliche Aktivitätskonten, bei dem die Individuen jederzeit den individuellen Stand erfahren können. Derzeit (unter Macron) ist das stark auf Weiterbildung begrenzt, könnte aber auch in Deutschland einen Fortschritt bedeuten. Es erfordert jedoch ein gewisses Maß an Bürokratie, beispielsweise für die Erteilung von Zertifikaten.

Von André Gorz (s.u.) wurde zu diesem Thema angeführt, dass die Qualität der zu leistenden Arbeit nicht beurteilbar sei. Also: Angehörige sind keine Garantie für beste Pflege. Lange Abwesenheit aus Beruf macht Weiterbildung erforderlich. – Die Qualität von Pflege ist ein Problem. Auszeiten sollten gleichzeitig Qualifizierungszeiten sein. Das sei in die Betriebe reinzutragen. Durch die Maßnahmen dürften sich auch die Auszeiten von Frauen auf dem Arbeitsmarkt verringern.

Wie weit sind die Erkenntnisse zur betrieblichen Perspektive gelangt? Das Optionszeiten-Modell grenzt sich ja von Forderungen nach Arbeitszeitverkürzungen ab. Ist ein neuer Kontrollapparat erforderlich? Das könne man ausweiten: wie kontrolliert man den Pflegebeitrag von Eltern? (Stichwort Elternführerschein) – Was Unternehmen betrifft: es herrscht eine große Vielfalt – BDA befürwortet in gewisser Weise das Modell.

Betriebliche Lösungen würden Mitsprache des Betriebs-/Personalrats erforderlich machen, denn sonst besteht die Gefahr, dass Care-Arbeit von Beschäftigten durch die übrige Belegschaft aufgefangen werden muss. Kollektive Aktivierung ist erforderlich, denn nicht alle Betriebe können Ausgleich/“Springer“ organisieren. Daher müssen dafür rechtssichere Verfahren gefunden werden. Es bedarf deshalb geregelter Beteiligungs- und Mitbestimmungsverfahren, um individuelle Lösungen von Arbeitszeitregelungen in kollektive Arbeitszeitkonzepte zu überführen. Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte bei der Entscheidung über individuelle Arbeitszeitwünsche (analog Paragraf 87 Abs.1 Nr. 5 BetrVG) müssten geschaffen werden. Das ist für ein reibungsloses Funktionieren des Optionszeitenmodells sicher relevant, das paternalistisch-produktivistische Modell solle ja ausgehebelt werden. Individuelle Freiheitsrechte sollen gesichert werden. Die Grauzonen des Arbeitsrechts in Betrieben ohne Beschäftigtenvertretung müssten dabei abgeschafft werden.

Zur Rolle des Vertrauens bei häuslicher Pflege durch Angehörige: das Optionszeiten-Modell muss mit Arbeitszeitmodellen verbunden werden. Das Modell verlangt den Einzelnen viel ab, da der Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung unterschiedlich und ungleich ist. Angesichts der Vielzahl von Leistungsansprüchen könnte hier das französische Modell eine Lösung sein.

Abschließend ist auf eine Kurzexpertise zu verweisen, in der offene Fragen behandelt werden:

Bringmann, Julia (2022): Das Modell für selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf. Eine Bestandsaufnahme mit Blick nach vorne. DIFIS - Deutsches Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung - Studie 2022/1

Vonseiten der Vortragenden wurde der Wunsch geäußert, ihnen relevante Ergebnisse aus der Arbeitsforschung zugänglich zu machen. Außerdem wurde auf eine einschlägige Tagung hingewiesen, die am 05.11.2024 in Berlin stattfinden wird.

Vonseiten der Arbeitsgruppe wurde der Wunsch geäußert, Ergebnisse nach der nächsten Sitzung des Optionszeiten-Labors mitgeteilt zu bekommen.

Ergänzender Literaturhinweis

Gorz, André (2000): Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt/Main (frz. Original 1997)

ders. (2007): „Eine ganz andere Weltzivilisation denken“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2007, S. 1383-1394, hier insbes. S. 1391

Anhang: Power Point Präsentation zum Vortrag

 

 

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