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Warum Erfahrungswissen unverzichtbar ist und gefördert werden muss

Rezension des Buchs von

Annegret Bolte, Judith Neumer (Hrsg.):

Lernen in der Arbeit. Erfahrungswissenschaftlich lernförderliche Arbeitsgestaltung bei wissensintensiven Berufen.

Augsburg, München: Rainer Hampp Verlag 2021, Euro 24,80

 

Die Digitalisierung von immer mehr Arbeitsbereichen und damit die zunehmende Formalisierung vieler Arbeitsvollzüge ist darauf angelegt, die subjektiven Anteile bei der Arbeit und bei der Erfüllung von Arbeitsaufgaben möglichst gering zu halten, insbesondere wenn es um den Transfer von Informationen geht. Die subjektiven Anteile gelten als unzuverlässig und besonders fehleranfällig, auch und gerade bei hoch qualifizierten und komplexen Arbeitsaufgaben. Gleichzeitig ist aber deutlich geworden, dass die beste formal-fachliche Qualifizierung unzureichend ist, wenn es um Lösungen für Probleme und kritische Situationen im Arbeitsalltag geht, der von Unwägbarkeiten und Ungewissheiten geprägt ist. In diesen Situationen bedarf es eines Erfahrungswissens, das andere Wissensbestandteile enthält, die allerdings nicht mit den gleichen Verfahren gelernt werden können, die das formale Fachwissen vermitteln. Vielmehr muss es im Arbeitsvollzug selbst, in der Bearbeitung der Arbeitsaufgaben gewonnen werden. Aufzuzeigen, dass das menschliches Erfahrungswissen unverzichtbar ist, die Hindernisse zu benennen, die ihm entgegenstehen, und die verschiedenen Möglichkeiten darzustellen, wie es gewonnen werden kann, ist der Anspruch des Bandes.

Die beiden interdisziplinär ausgerichteten Herausgeberinnen Annegret Bolte und Judith Neumer haben dazu die Ergebnisse von zwei neuen, methodisch anspruchsvollen Verbundprojekten mit den konzeptionellen und theoretischen Vorarbeiten der langjährigen, betriebsnahen Arbeitsforschung, wie sie im Institut für sozialwissenschaftliche Forschung in München (ISF) gepflegt wird, sinnfällig und überzeugend integriert. Das Buch ist in vier Teile gegliedert:

Im Einführungsteil zeichnet Fritz Böhle die Linien nach, in denen sich die auch von ihm mitgeprägte Diskussion um eine lernförderlich Gestaltung von Arbeit bewegte, die seit dem Aktions- und Forschungsprogramm zur Humanisierung des Arbeitslebens in den 1970er Jahren in einer sich ständig verändernden Arbeitswelt Fahrt aufnahm. Das Humanisierungsprogramm war zunächst darauf ausgerichtet, besonders die Arbeitsbedingungen der taylorisierten, industriellen Produktionsarbeit (z.B in der Unterhaltungselektronik und Automobilindustrie) humaner zu gestalten, denn die tayloristische Rationalisierung setzte auf Zerteilung von Arbeitsaufgaben in kleinste Verrichtungen, die nur sehr kurzer Anlernzeiten für die so Beschäftigten bedurfte; und sie ging mit Dequalifizierung und Gesundheitsschädigung der Beschäftigten einher. Als in den 1990er Jahren neue Produktionskonzepte in Branchen wie dem Maschinenbau und der Automobilindustrie entstanden und neue Managementkonzepte generell immer stärker auf Verantwortung der einzelnen Beschäftigten ausgerichtet wurden, fanden berufliche Qualifizierung, Schlüsselkompetenzen und Lernen in der Arbeit wieder Beachtung.

In diesem Zusammenhang wurden branchenspezifisch besondere betriebliche Formen und Vorkehrungen in der Produktion getroffen. Es ging um Kompetenzen für Handlungsfähigkeit. Dies ist auch seitdem verstärkt in den zunehmend wissensintensiven Berufen und Arbeitsbereichen der Fall. Weitgehend unbeachtet blieben aber in der Bildungspolitik und betrieblichen Praxis jene Befunde, die auf die unersetzliche Bedeutung fachlichen Erfahrungswissens verweisen. Das fachliche Erfahrungswissen hängt mit der Komplementarität verschiedener, aber zusammengehöriger Vorgehensweisen in der menschlichen Arbeit zusammen, die Böhle mit den Begriffen eines „objektivierenden“ und „subjektivierenden Arbeitshandelns“ bezeichnet. Er hat diese Vorgehensweisen an Werkzeugmaschinen in analoger Bauart und später in digital-technischen Formaten ebenso wie in Dienstleistungsberufen vielfach erforscht. Die bezeichneten komplementären Vorgehensweisen unterscheiden sich u.a. durch ein planvoll analytisches gegenüber einem assoziativ bildhaften Denken und durch ein formales Wissen gegenüber einem mit menschlichen Sinnen erspürten, impliziten und informellen Wissen dessen, was in einer Arbeitssituation vorliegt. In dem Band wird aufgezeigt, welche zentrale Bedeutung diesen unterschiedenen, aber komplementären Herangehensweisen auch bei den gegenwärtig zentralen, betrieblichen Themen der Kommunikation, Kooperation und Koordination in komplexen Arbeitsaufgaben zukommt.

Das auf diese Themen ausgerichtete, konzeptionell begründete Forschungsdesign und die Methodik der dem Buch zugrundeliegenden „interventionsorientierten Fallstudien“, die den Bedarf an Erfahrungswissen erhoben und zugleich verschiedene Wege erkundet haben, wie dieses nicht planbare Wissen gleichwohl zu befördern ist, werden von Stefan Sauer und Annegret Bolte beschrieben.

Auf dieser Grundlage ist der zweite Teil des Bandes dem Aufweisen des notwendigen Kontextwissens als einer besonderen Form des Erfahrungswissens für die Erfüllung von Arbeitsaufgaben gewidmet. Dazu werden von Annegret Bolte und Stefan Sauer zunächst konzeptionelle Überlegungen angestellt mit besonderer Betonung des subjektivierenden Arbeitshandelns. In einem weiteren Kapitel wird die Arbeitswirklichkeit in der fach- und unternehmensübergreifenden Projektarbeit (z.B. bei der Softwareentwicklung) von Eckart Heidling dargestellt; Projektarbeit ist eine typische Form gegenwärtiger Arbeitsaufgaben, die von doppelter Ungewissheit und entsprechend einem deutlich größeren Anteil von erfahrungsgeleitet-subjektivierendem Arbeitshandeln geprägt sind. Zitierte Aussagen von Beschäftigten veranschaulichen, welche informellen Ressourcen sie nutzen, um in schwierigen und ungewissen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Dass es immer um die Ausbalancierung von Spannungsverhältnissen geht, unterstreicht die bis jetzt wenig anerkannte Bedeutung des Informellen und Nichtplanbaren. In den Folgekapiteln von Bolte, Sauer und Neumer wird darauf eingegangen, wie von jungen Ingenieurinnen und Ingenieuren das notwendige, erfahrungsbasierte Kontextwissen gelernt werden kann, wenn sie von der Hochschule in die Unternehmen kommen und entdecken, dass sie nach ihrem Studium erst noch praktisches Wissen und Können erlernen müssen. Ein sehr anschauliches Kapitel über die Grenzen der digitalen Technisierung, wie sie in den Unternehmen erlebt wird und zu bewältigen ist, unterstreicht diesen Befund.

Der dritte Teil ist Lernhemmnissen und lernförderlicher Arbeit in wissensintensiven Berufen gewidmet, wobei mit Jost Buschmeyer, Claudia Munz u.a. Verbundpartner der Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung beteiligt sind. Die drei Kapitel gehen auf die Neubestimmung des traditionellen Konzepts der lernförderlichen Arbeitsgestaltung ein. Neben dem Aufweis vorhandener Lernhemmnisse liegt der Schwerpunkt auf der notwendigen Erweiterung der Kriterien lernförderlicher Arbeitsgestaltung bei qualifiziert-selbstverantwortlicher Arbeit und auf dem Thema Arbeitsprozesse. Zur Veranschaulichung sind tabellenartige Gegenüberstellungen, Bilder und Grafiken eingefügt. Sie machen darauf aufmerksam, dass es oft anderer als technischer Medien und kreativer Methoden bedarf, um Lernen zu befördern.

Im vierten abschließenden Teil der Befunde aus den beiden Verbundprojekten werden zusammen mit Wissenschafts- und Transferpartnern und -partnerinnen drei konkrete Modelle lernförderlicher Arbeitsgestaltung dargestellt, die in den Unternehmen erprobt wurden: 1. Möglichkeiten zur Gewinnung von Kontextwissen, 2. „personengebundene Simulation“ in Gestaltung von Coaching und Rollenspielen zur erfahrungsbasierten Vorbereitung von Verhandlungssituationen und 3. besondere personalpolitische Modelle, die den Erwerb von Kontextwissen erleichtern. Auch hier wird anschaulich mit zitierten Beschreibungen von Beschäftigten und Grafiken gearbeitet.

In einem knappen Ausblick fasst Fritz Böhle die Befunde, Argumente und Empfehlungen in sieben arbeits- und bildungspolitischen Thesen zusammen.

Der Band verdeutlicht konkret und anschaulich, dass bei jedweder — auch und gerade bei einer hochkomplexen — Arbeitsaufgabe, ein formales Wissen und darauf gegründetes Vorgehen allein nicht ausreicht. Die Arbeitswirklichkeit ist nie vollständig berechenbar und die formal vorgesehenen Prozeduren und Handlungsoptionen weniger reichhaltig als die menschlichen Möglichkeiten, wenn sie denn zum Zuge kommen können. Dem Band ist eine breite Resonanz zu wünschen.

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