Sie sind hier:Startseite»Suchergebnisse»Dieter Sauer

Dieter Sauer

21.11.2021

Humanisierung der Arbeit in der Transformation - aktuell und in den letzten 50 Jahren

Dieter Sauer

Humanisierung der Arbeit in der Transformation - aktuell und in den letzten 50 Jahren

Vortrag auf dem Workshop IV des Vereins Humanisierung von Arbeit und Leben e.V.: Transformation der Arbeit und Herausforderung der Gesellschaft am Dienstag, dem 26.10.2021 in Bad Godesberg

 

Vorbemerkung

Vielen Dank für die Einladung zu Eurer Tagung. Ich habe sie gerne angenommen, denn die Entwicklung von Arbeit war schon immer mein Thema, egal unter welchem Label sie begrifflich gefasst wurde. Als banale Veränderung, als kontinuierlicher Wandel, als radikaler Umbruch oder heute als Transformation. In meinem Alter wird man immer mehr zum Zeitzeugen: die HdA-Geschichte hat viel mit dem Verlauf meines eigenen Lebens zu tun.

Und ich habe die Einladung auch deswegen sehr gerne angenommen, weil die heutige Veranstaltung dem 75. Geburtstag von Sigrid Skarpelis-Sperk gewidmet ist. Sigrid ist fast genau ein Jahr später und wie ich in Tschechien geboren und dann nach Bayern gekommen. Ich kenne Sigrid seit Mitte der sechziger Jahre: wir waren zusammen in der Fachschaft Volks-und Betriebswirtschaft an Universität in München und kämpften um eine Verbesserung der Studienbedingungen und wir waren dabei natürlich in die 68-Bewegung in München involviert. Damals lernte ich auch Costas kennen, der hier seinen Kampf gegen die Militärjunta in Griechenland fortsetzte.

Doch nun zu meinem Vortrag: ich vermute, das bei einigen hier im Raum die HdA-geschichte auch einen nicht unwesentlichen Teil ihres Lebens begleitet und geprägt hat. Deswegen setze ich auf Euer Interesse an einem kurzen Blick zurück, auf 50 Jahre Humanisierung der Arbeit – wobei man natürlich darüber streiten kann ob die Geschichte wirklich so lange geht und vor allem darüber welchen Stellenwert HdA in der aktuellen Transformation noch hat. Dazu später mehr. Es geht mir dabei nicht um Details – da wissen einige von Euch sicher deutlich mehr als ich. Mir geht es mehr um die zeitdiagnostische Einschätzung dieser Entwicklung und in der Zeit, die ich zur Verfügung habe kann das nur sehr plakativ sein. Ich kann mich dabei auf Texte stützen, die ich in den letzten 20 Jahren dazu publiziert habe. Ich habe meine Zeitreise in vier Abschnitte eingeteilt:

1. Abschnitt: HdA im letzten Jahrhundert. Aufbruch, Anpassung, Enteignung                                                                                                                

2. Abschnitt: Arbeitspolitischen Krise und neue Initiativen „Guter Arbeit“                                                                      3. Abschnitt. Das letzte Jahrzehnt: Zuspitzung arbeitsweltlicher Problemlagen 
4. Abschnitt: „Gute Arbeit“ in der digitalen Transformation

HdA im letzten Jahrhundert: Aufbruch, Anpassung und Enteignung

Versucht man die Entwicklung im letzten Jahrhundert historisch zu strukturieren, so sehe ich drei Etappen, die ich jeweils mit den Stichworten Aufbruch, Anpassung und Enteignung überschrieben habe.

Reformerischer Aufbruch: die 70er-Jahre

Die späten 60er und die frühen 70er Jahre waren nicht nur durch eine soziokulturelle und gesellschaftspolitische Aufbruchsstimmung gekennzeichnet, wie sie nicht zuletzt durch Willy Brandt symbolisiert wurde. Es gab auch eine Reihe konkreter Krisensymptome und Konflikte im arbeitspolitischen Feld:

In einer Reihe von spontanen und gewerkschaftlich organisierten Streikaktionen erhielten die Arbeitsbedingungen zunehmende Bedeutung. Die in den 50er und 60er Jahren noch vorherrschende Erwartung, dass sich die Qualität des Arbeitslebens quasi im Selbstlauf mit dem technischen Fortschritt – so hieß das damals noch – verbessern würde, hatte sich nicht erfüllt. Standen bis dahin im Zeichen des „Wirtschaftswunders“ vor allem Einkommenserhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen, also mehr Freizeit, im Zentrum arbeitspolitischer Forderungen, so ging es jetzt auch um die „Qualität der Arbeit“. Die Grenzen der fordistischen Massenproduktion mit ihrer tayloristisch geprägten Arbeitsorganisation, symbolisiert durch das Fließband, wurden sichtbar. Es ging vorrangig um die Verbesserung gesundheitsgefährdender Arbeitsbedingungen: vor allem um Belastungen aus schwerer körperlicher Arbeit, um Umgebungsbelastungen (wie z.B. Lärm) und um die negativen Auswirkungen restriktiver, monotoner Arbeit. Und es ging auch um die soziale Anerkennung des Arbeitnehmers, d.h. um den Anspruch eines rechtlich geachteten Arbeitsbürgers.

Der Notwendigkeit einer aktiven Arbeitsgestaltung wurde damals durch eine Reihe staatlicher Maßnahmen Rechnung getragen, wie z.B. die Arbeitsschutzgesetze, die Gründung der Bundesanstalt für Arbeits- und Gesundheitsschutz, das Betriebsverfassungsgesetz von 1972. Nicht zuletzt wurde 1974 das Aktions- und Forschungsprogramm zur „Humanisierung des Arbeitslebens“ auf den Weg gebracht.

Unter dem damaligen Forschungsminister Matthöfer und dem Leiter des Projektträgers Willi Pöhler waren auch wir als Sozialwissenschaftliche Institute, das SOFI, das ISF u.a., an der Formulierung des Programms beteiligt. Auch ich war – als junger Mitarbeiter damals zusammen mit Norbert Altmann und Michael Schumann dabei - ohne zu ahnen welche Folgen das für die zukünftige Gesellschaft und für die Entwicklung der Institute haben würde.

Vereinbarkeit von Rationalisierung und Humanisierung: die 80er-Jahre

In einer zweiten Etappe, die in etwa die 80er-Jahre umfasst, wurde die Krise des Taylorismus offensichtlicher, und es entwickelte sich in der Arbeitsforschung und auch bei den Gewerkschaften eine regelrechte Gestaltungseuphorie. Sie erreichte ihren Höhepunkt mit den Mitte der 80er-Jahre propagierten neuen Produktionskonzepten. Sie waren das Fanal für eine optimistische Perspektive – schließlich wurde 1984 von Horst Kern und Michael Schumann das Ende der Arbeitsteilung ausgerufen.                                                                     Es ging um die Vereinbarkeit von Rationalisierung und Humanisierung. Die Erfolge jener Phase konzentrierten sich auf sogenannte Win-win-Situationen in den Unternehmen, die allerdings nur einen relativ kleinen Teil der Beschäftigten – die sogenannten Rationalisierungsgewinner – betrafen. Dies wurde damals kritisiert, unter anderem auch von uns, die wir dieser Gestaltungseuphorie und auch einer Perspektive der Versöhnung von Kapital und Arbeit sehr skeptisch gegenüber standen.

Erfolg und Enteignung der Taylorismuskritik: die 90er-Jahre

In einer dritten Etappe, seit Anfang der 90er-Jahre, erreichte die programmatische Abkehr von tayloristischen Arbeitsmethoden ihren Höhepunkt und gleichzeitig ihre Verkehrung: Die zum neuen Produktionsmodell hochstilisierte, angebliche Abkehr vom Taylorismus trat in Form eines an japanischen Produktionsmethoden orientierten Modells der lean production ins Zentrum der Debatte. Die Verkehrung bestand darin, dass dieses Ziel nicht von kritischen Wissenschaftlern oder Gewerkschaftern propagiert wurde, sondern von den Unternehmen, vom Management und ihren Beratern. Und mit den neuen Managementkonzepten schienen sich tatsächlich viele der alten Humanisierungsziele zu erfüllen: von flexiblen, selbst bestimmten Arbeitszeiten über Gruppenarbeit bis hin zu weitgehender Selbstorganisation und Selbstverantwortung. Eine eigenständige staatliche und gewerkschaftliche Arbeitsgestaltungspolitik erschien weitgehend überflüssig. Eine Verbesserung von Arbeitsbedingungen sollte sich quasi im Selbstlauf im Gefolge betrieblicher Rationalisierung ergeben. Das sollte sich später als Trugschluss erweisen.

Zum selben Zeitpunkt und zum Teil bereits als Folge der neuen Unternehmensstrategien trat mit steigenden Arbeitslosenzahlen das Problem der Beschäftigungssicherung in den Vordergrund und verdrängte sehr schnell und sehr nachhaltig alle anderen Zielsetzungen von der arbeitspolitischen Agenda. Jetzt einte die Losung „Hauptsache Arbeit“ alle arbeitspolitischen Akteure zumindest in der Frage der Prioritäten. Die „Qualität der Arbeit“ war kein Thema mehr. Im Gegenteil: Im Zeichen der Standort- und Beschäftigungssicherung wurden viele der früher von den Arbeitnehmern und ihren Interessenvertretungen erkämpften sozialen Errungenschaften, die auch Merkmale einer Qualität der Arbeit waren, gegen Zusagen zur Arbeitsplatzsicherung eingetauscht, man kann auch sagen verkauft. Neben Einkommensverlusten handelt es sich vor allem um längere Arbeitszeiten, weniger Urlaub, schlechtere Pausen- oder Schichtzeitregelungen, höhere Leistungsziele u.v.a.m.

Ein Zwischenbemerkung bevor ich zum nächsten Abschnitt komme: Die Entwicklung des HdA-Programmes von seinen Anfängen bis heute ist ein guter Indikator für die Entwicklung von Arbeitspolitik, insbesondere für staatliche Arbeitspolitik. Sie zeigt, wie das Konzept einer „Humanisierung der Arbeit“ sukzessive aus den politischen Programmatiken verschwindet: An die Stelle einer „Qualität der Arbeit“ treten ökonomische und technische Zielsetzungen: sei es die wirtschaftliche Modernisierung oder später, bereits im Zeichen der Globalisierung, die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der deutschen Industrie. Und das ist auch in den weiteren Metamorphosen des Programms so geblieben. Dennoch waren und sind natürlich die jeweiligen Programme und deren Umsetzung im Projektträger für die Arbeitsforschung betreibenden Institute bis heute überlebenswichtig. Und bei all den Schwierigkeiten, das Label Arbeit im Programm zu halten, sind daraus immer wieder wichtige Untersuchungen zustande gekommen. Dafür möchte ich allen hier anwesenden Mitarbeitern des ehemaligen Projektträgers ausdrücklich danken. Meine kritische historische Betrachtung der HdA-Programme ist natürlich keine Kritik an euch, aber das kommt auch hoffentlich nicht so rüber. Aber jetzt zu nächsten Abschnitt. Das erste Jahrzehnt im neuen Jahrhundert.    

Aus der arbeitspolitischen Krise zur neuen Initiative „Guter Arbeit“

Wie bei der Entstehung der Initiative zu einer Humanisierung des Arbeitslebens in den 1970er Jahren verschärften sich die Konflikte in den Betrieben schon in den 90iger Jahren und dann zu Beginn der 2000er Jahre. Allerdings standen andere Belastungen im Vordergrund: In den 2000er Jahren wurde der enorm gewachsene Problemdruck in der Arbeitswelt nicht nur von uns als Resultat einer sich durchsetzenden marktzentrierten Produktionsweise interpretiert. Die Ausrichtung unternehmensinterner Prozesse auf Absatz- und Finanzmärkte (Vermarktlichung) und die Etablierung eines neuen Steuerungsmodus in den Betrieben (Indirekte Steuerung) hatten erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen: Entsicherung, Flexibilisierung und Subjektivierung von Arbeit. In meinem Beitrag zum ersten Jahrbuch Gute Arbeit 2009 habe ich diese Auswirkungen wie folgt beschrieben: „Wenn wir sehr pauschal einen unabweisbaren Problemdruck ähnlich dem in den 70er Jahren benennen wollen, der heute weitgehend alle Beschäftigtengruppen betrifft, so lassen sich drei Dimensionen hervorheben:

  • Zum einen ist dies ein wachsender Zeit- und Leistungsdruck, der gegenwärtig in allen Beschäftigten- und Betriebsrätebefragungen an erster Stelle steht.
  • Zum anderen wird das Verhältnis von Arbeits- und Privatleben von immer breiteren Beschäftigtengruppen als immer problematischer erlebt.
  • Schließlich verschärfen sich die objektive Unsicherheit und subjektive Verunsicherung nicht nur bei prekärer Beschäftigung, sondern auch breitflächig in der ‚Normalbeschäftigung‘.

Diese drei Entwicklungstendenzen kombinieren sich vielfach in einem Belastungssyndrom ›moderner‹ Arbeit, das in der Dominanz psychischer Belastungen seinen Ausdruck findet.“

Auch die Arbeitsforschung geriet in dieser Zeit unter Druck. Seit Jahren schrumpften in Forschungs-und Arbeitsministerien die Fördermittel für Forschungsprojekte, in denen die Entwicklung von Arbeit noch eine Rolle spielte. Institute mussten schließen, Lehrstühle wurden abgebaut, zunehmend verschwand die Widmung Arbeit aus den Lehrstuhlbezeichnungen und den Institutstiteln.

Vor dem Hintergrund dieser weitreichenden gesellschaftlichen De-Thematisierung von Arbeit waren die sich zu Beginn der Nullerjahre andeutenden Anzeichen einer Neuorientierung und Neuausrichtung in der Arbeitsforschung und in der Arbeitspolitik ein wichtiger Hoffnungsträger: Das Forschungsprogramm „Innovative Arbeitsgestaltung“ (IAG) des BMBF und hier insbesondere der Ideenwettbewerb „Zukunftsfähige Arbeitsforschung“ oder auch das Programm INQUA des Ministerium für Wirtschaft und Arbeit waren solche Anzeichen. Leider waren die Mittel in diesen Förderprogrammen so bescheiden, dass sie eher die De-Thematisierung von Arbeit auch in der staatlichen Förderpolitik bestätigten. Auch in der Arbeitspolitik waren in dieser Zeit diverse Initiativen entstanden, so z.B. die Arbeitsinitiativen bei der IG Metall und Verdi mit dem Label gute bzw. faire Arbeit, die zumindest die Thematisierung qualitativer Arbeitspolitik innerhalb der Gewerkschaften voranbrachte. Auf mehreren Tagungen wurde damals auch der Übergang von humaner zu guter Arbeit und der Hintergrund dieser Entwicklung, die Umbrüche in der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit, diskutiert. Ich kann das hier nur kurz streifen:

Hinter dem Leitbild der „humanen“ oder „menschengerechten Arbeit“ steckte das normative, naturwissenschaftliche Menschenbild der Arbeitswissenschaften mit Anspruch auf objektivierbare Kriterien.

Der Begriff der „guten Arbeit“ reflektiert, wenn man so will, die neue Rolle des Individuums oder, präziser, der Person in der Arbeit und damit auch in der Bewertung von Arbeit. Diese wird individueller und subjektiver – Beispiel dafür war der DGB-Index „Gute Arbeit“. Hier finden wir eine Bewertung der Qualität der Arbeit durch die Beschäftigten selbst, jenseits von quasi objektiven Experteneinschätzungen.

Nach einem aus Gewerkschaftssicht „arbeitspolitisch verlorenen Jahrzehnt“ gelang den Gewerkschaften mit dem Begriff der „Guten Arbeit“ zumindest ein erfolgreiches „Agenda Setting“, das ihnen neuen Einfluss auf die öffentliche Debatte und die politische Willensbildung verschaffte. Wieweit es auch zu faktischen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen gekommen ist will ich auf dem Hintergrund unserer Beobachtungen in den letzten 10 Jahren betrachten und bewerten.

Zuspitzung arbeitsweltlicher Problemlagen in den letzten 10 Jahren

Hintergrund sind vier qualitative Befragungen unter Gewerkschaftsmitgliedern, Vertrauensleuten und Betriebsräten, die wir in den letzten zehn Jahren zum Thema „Wahrnehmung der Krise“ (Detje u.a. 2011), zur „Rolle der Politik bei der Krisenbewältigung“ (Detje u.a. 2013), zum Thema „Rechtspopulismus und Gewerkschaften“ (Sauer u.a. 2018) und zuletzt zur „Corona-Krise im Betrieb“ (Detje/Sauer 2021) durchgeführt haben.

Obwohl diese Befragungen jeweils spezifische Themen zum Gegenstand hatten, ist in ihnen ein relativ detailliertes Bild über die Zustände in den Betrieben entstanden. Die Befragten aus verschiedenen Betrieben der Metallindustrie und aus Dienstleistungsunternehmen berichteten ausführlich über die betriebliche Lage und ihre konkreten Arbeitsbedingungen. Auf Grund des explorativen Charakters der Studien lassen sich daraus keine repräsentativen Ergebnisse ableiten. Ein Abgleich mit Befragungen wie etwa dem DGB-Index Gute Arbeit kann jedoch einige der Befunde erhärten und spezifizieren. Die Aussagen der von uns befragten Kolleginnen und Kollegen zeichnen ein einigermaßen authentisches Bild der betrieblichen Arbeitssituation, das trotz der jeweiligen subjektiven Färbung einen verstörenden Kontrast zu dem politisch und medial erzeugten Bild einer heilen Arbeitswelt liefert. Folgt man nämlich den offiziellen Verlautbarungen der Bundesregierung und Medien-darstellungen in den letzten Jahren, entsteht der Eindruck: Um Wachstum, Wohlstand, Arbeitsmarkt etc. ist es besser bestellt als je zuvor. Es wird das Bild einer Erfolgsökonomie gezeichnet. Die Erzählungen unsere Befragten sprechen ein deutlich andere Sprache.  Und auch eine andere Sprache als in den Projekten der Digitalisierungsforschung, die die Arbeitsforschung in den Instituten inzwischen dominiert. Für mich hat sich daraus eine erhebliche Diskrepanz entwickelt: einerseits eine relativ kritische Sicht auf die Entwicklung der Arbeitswelt, die sich in dem Blick von unten aus der Sicht der Beschäftigten begründet und andrerseits eine Vielzahl von Digitalisierungsprojekten im Institut, die sich mit spezialisierten Fragen der Digitalisierungsentwicklung befassen und die „normale Arbeitswelt“ nicht mehr in Blick bekommen. Bleiben wir beim „Blick von unten“:

Ein zentraler Befund der Studie aus dem Jahre 2018 mündet in die These einer Zuspitzung arbeitsweltlicher Problemlagen, auch oberhalb der Zonen der Prekarität. In der Schilderung der Arbeitssituation ist in den meisten Fällen von einer Verschlechterung die Rede. Referenzpunkt ist dabei jedoch nicht eine Arbeitswelt, in der einmal »alles besser war«, sondern die Verschlechterung wird in der Kontinuität eines schon länger andauernden Krisenprozesses gesehen. Als »krisenhaft«– im Sinne einer Abwärtsspirale – werden der fortwährende Druck und die permanente Unsicherheit von Beschäftigung, Einkommen und Arbeitsbedingungen verstanden. Als verursachender Hintergrund wird vor allem auf die beständige Restrukturierung der Abläufe im Betrieb verwiesen: Aufspaltungen, Verlagerungen, Standortkonkurrenz, Kostensenkungsprogramme, zunehmender Leistungsdruck u.v.a.m. Und aus der Erfahrung einer zunehmenden Verschlechterung erwächst auch subjektiv eine gesteigerte Unzufriedenheit, die vielfach in Wut oder Resignation mündet. Die Befragten erzählen von Abstiegs- und Zukunftsängsten, von Abwertungserfahrungen, von Gefühlen der Macht- und Perspektivlosigkeit. Wir haben die arbeitsweltliche Zuspitzung mit den darin eingeschriebenen Verlusterfahrungen in einer Studie auch als Nährboden für einen potenziell auch in der Arbeitswelt Fuß fassenden Rechtspopulismus bezeichnet.                                       Diese Einschätzungen haben wir schon in unseren beiden Studien zum Krisenbewusstsein 2011 und 2013 vorgefunden, in denen die Konsequenzen dieses »Dauerzustands von Krise« für die Beschäftigten einschneidender erlebt wurden als die realwirtschaftlichen Folgen der Finanzmarktkrise.

Auch in anderen Forschungsprojekten haben wir solche Einschätzungen vorgefunden. Sie sind u.a. ein Beleg für unsere These einer permanenten Reorganisation in den Unternehmen, die teilweise unabhängig von jeweiligen Konjunkturverläufen (»ob Boom oder Krise«) bei den Beschäftigten beständig für Unruhe und Druck sorgt. »Krise ist immer« meint auch das Ende von Normalität: Das Leben in den Betrieben kennt keine Ruhephasen mehr. Wenn wir die etwas älteren Beschäftigten gefragt haben, seit wann das denn so sei, nannten sie immer die 1990er Jahre, in denen das alles angefangen habe.

Unser Eindruck ist, dass sich die Verhältnisse in den Betrieben weiter zugespitzt haben, sowohl was die objektiven Bedingungen angeht, als auch in der subjektiven Wahrnehmung der Beschäftigten. Dieser Eindruck ist vor dem Hintergrund der historischen Tendenz einer permanenten betrieblichen Reorganisation nicht verwunderlich, denn diese folgt einer immanenten Steigerungslogik als Resultat einer finanzmarktorientierten Unternehmenssteuerung. Hinzu kommt der neoliberale Umbau der Sozialsysteme, der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse entsicherte. »Krise ist immer« bedeutet deswegen nicht nur Unsicherheit, Anspannung und Überforderung, sondern es entsteht eine Abwärtsspirale bei den Arbeits-standards und -bedingungen. Und dies gilt für ganz unterschiedliche Branchen – in Industrie – wie in Dienstleistungsunternehmen - und für unterschiedliche Beschäftigtengruppen gleichermaßen.

Gute Arbeit in der digitalen Transformation

In meiner Skizze der arbeitsweltlichen Entwicklung im letzten Jahrzehnt spielte Digitalisierung als der neue gesellschaftliche Megatrend keine zentrale Rolle. Das bedeutet jedoch nicht, dass er in den Interviews und Gruppendiskussionen nicht vorgekommen wäre. Unternehmerische Strategien einer permanenten Rationalisierung und Reorganisation und die daraus resultierenden Maßnahmen waren immer ein wichtiges Thema. Und mit ihnen verbindet sich zunehmend auch der Einsatz digitaler Technologien, und das nicht erst in den letzten Jahren. Und natürlich spielen in den Einschätzungen über die zukünftige Entwicklung auch Zukunftsängste eine Rolle, die mit der digitalen und auch mit der ökologischen Transformation, also mit der Dekarbonisierung, verknüpft sind. Aber auch die meisten Beschäftigten wissen, dass es nie die Technik ist, die Arbeitssituationen und -verhältnisse gestaltet, sondern die Unternehmen, die sie anwenden, um bestimmte Probleme zu lösen oder Ziele zu erreichen. Technik ist eine nicht „hintergehbare“ Einflussgröße auf die Reorganisation von Unternehmen, aber sie determiniert sie nicht. Keine unbedingt neue Erkenntnis für Arbeitssoziologen. Und wer sich ins Gespräch mit den Beschäftigten begibt, wird merken, dass sie zur digitalen Technik als solcher ein relativ entspanntes Verhältnis haben. Sie ängstigt sie auch nicht besonders und sie machen sie auch nicht für ihr Arbeitsleid verantwortlich. Thematisiert werden vielmehr die betrieblichen Entwicklungspfade, in denen die gegenwärtige und künftig erwartete Arbeitssituation eingeordnet wird.

Tatsächlich ist die digitale Transformation der Arbeit auch noch nicht da angelangt, wo ihre Promotoren sie sehen wollen. Zwar gibt es zahlreiche Ansätze, die auf eine digitalisierte Arbeitswelt deuten: virtuelle Kommunikation und Zusammenarbeit, ortsflexibles Arbeiten, automatische Auftragsabwicklung, die Echtzeit-Transparenz aller möglichen Leistungsparameter und die Rückverfolgung in der Wertschöpfungskette, aber der große Wurf des smarten Unternehmens, das mehr als „digitale Insellösungen“ bereitstellt, ist noch in weiter Ferne.

Und ich vertrete die Position, dass der mächtige Trend in den Unternehmen nicht die digitale Transformation als solche ist, sondern der Umbruch ihres Organisationsprinzips. Die digitale Transformation der Arbeit ist eingebettet in einen tiefgehenden gesellschaftlichen Umbruchprozess, in dem in den letzten beiden Jahrzehnten ein verändertes Verhältnis von Markt und Produktion sichtbar wird. Die Reorganisationsperspektive der Vermarktlichung und der innerbetriebliche Steuerungsmodus der indirekten Steuerung lassen sich als Versuche interpretieren, den zu bearbeitenden allgemeinen Widerspruch von Markt- und Produktionsökonomie und dessen Konkretionen, die Konflikte zwischen Dezentralisierung und Zentralisierung, zwischen Flexibilisierung und Standardisierung, zwischen Kosten und Qualität, zwischen wachsender Selbstständigkeit und verstärkter Kontrolle etc., den jeweiligen ökonomischen Rahmenbedingungen entsprechend zu bewältigen. Das Potenzial der marktorientierten Reorganisation liegt für die Unternehmen nicht zuletzt in der Variabilität und Flexibilität organisatorischer Strukturen, die wiederum wesentlich von den Potenzialen technischer Systeme abhängen. Schon mit der breiten Durchsetzung von Informations- und Kommunikationstechnologien seit den 1990er Jahren wurden wesentliche Instrumente für durchgreifende, organisatorische Veränderungen bereitgestellt. Bislang ist es den Unternehmen jedoch nicht gelungen, eindeutige und stabile Lösungswege zu finden, die Reorganisation des Unternehmens bleibt ein permanenter Trial-and-Error-Prozess, der den Charakter von Rationalisierung und Reorganisation grundlegend verändert, indem er sie auf Dauer stellt. Nach Jahren permanenter Reorganisation stehen digitale Technologien nun für die Hoffnung der Unternehmen, die flexible Anpassung an volatile Marktanforderungen vorwiegend technisch bewältigen zu können.

Während Globalisierung und Finanzmärkte den Druck auf die Unternehmen weiter verstärken, Marktorientierung und Konkurrenz weiter zunehmen, transnationale Unternehmungen und weitverzweigte Wertschöpfungsketten verstärkt ausgebaut werden, bergen digitale Technologien also das Versprechen, den Suchprozessen und dem ewigen Trial and Error ein Ende zu setzen und eindeutige – technische – Lösungen zu liefern. Flexible und stabil laufende Prozesse, Transparenz, Echtzeitsteuerung,– vieles von dem, was in früheren Entwicklungsphasen und Konzepten angedacht und versucht, aber nicht oder nur bruchstückweise realisiert werden konnte, scheint nun technisch möglich, der „reibungslose Kapitalismus“ (Bill Gates) scheint in Sichtweite. Dem entspricht die Geisteshaltung, die hinter dem Digitalisierungsdiskurs steht: es ist der technologische Solutionismus: die Annahme, man könne alle Probleme mit der richtigen Technologie oder mit dem richtigen Programm lösen ohne die mühsame Abwägung von Interessen oder eine öffentliche Verständigung über gemeinsame Ziele. Wie aktuelle empirische Studien zeigen, erweist sich jedoch bislang zumindest die betriebliche Realität als zu sperrig und komplex, um sich durch die Logik des Algorithmus vollständig beherrschen zu lassen und so alle anstehenden Problem zu lösen.

Aus meiner Sicht – auch auf dem Hintergrund von Forschung im ISF - verschränkt sich die digitale Transformation der Arbeit mit der marktorientierten Reorganisation des Unternehmens: Durch digital erweiterte Vernetzung und zunehmende Datentransparenz können Erfolgsgrößen und Marktkennzahlen in den laufenden Arbeitsprozess integriert werden, die Echtzeitdaten steigern die Steuerungsfähigkeit der dezentralen Einheiten. Augenfällig wird die Verschränkung in den zahlreichen betrieblichen Digitalisierungsprojekten, die unter den Schlagwörtern „lean und digital“ oder „digital und agil“ mit neuen Organisationskonzepten verknüpft sind. Die Begriffe „lean“ und „agil“ entstammen dabei nicht dem technik-, sondern einem organisationstheoretischen und betriebswirtschaftlichen Diskurs, der von Innovation und Beschleunigung handelt. Es geht um Organisationsmethoden, die sich von zentralistischen Konzepten („Wasserfallmethode“) abkehren und Flexibilität, Initiative und Selbststeuerung fokussieren. Er liefert die Begriffe für das, was vorher als indirekte Steuerung bezeichnet wurde. Fast scheint es so, als solle die Digitalisierung der Katalysator für die Durchsetzung dieses Organisationsprinzips sein.

Was heißt das nun für das Verhältnis von Digitalisierung und Arbeit?

Betrachtet man die digitale Technik isoliert, so könnte sie krank machende Arbeit übernehmen, anspruchsvolle Arbeit unterstützen, den Betrieb demokratisieren und die Geschäftsprozesse allen Mitarbeiter*innen einsichtig machen, um damit die Voraussetzung für ihre Mitwirkung und Mitbestimmung zu schaffen. Und ja, digitale Technik bietet zugleich neue Möglichkeiten für eine umfassende Überwachung und Kontrolle von Arbeitsabläufen. Empirisch weiß man dazu noch nicht sehr viel: von einer signifikanten Abnahme von Arbeitsbelastungen ist jedoch nichts zu erkennen. Im Gegenteil: bisherige Forschungsergebnisse deuten eher darauf hin, dass es zu einer Verschärfung von Belastungseffekten kommen kann.

Nimmt man den hier skizzierten historischen Zusammenhang von Digitalisierung und marktorientierter Reorganisation ernst, so hat das Konsequenzen für Analyse von Digitalisierung und Arbeit. Nach unserer Einschätzung zielt der Einsatz digitaler Technik durch die Unternehmen vor allem darauf ab, den Widerspruch zwischen Produktions- und Marktökonomie zu bearbeiten und den Betrieb so volatil zu halten, wie es der Markt verlangt. Die umfassende Datenerfassung durch digitale Technik dient aus dieser Perspektive nicht primär dem Zweck der individuellen Leistungskontrolle, sondern verfolgt zuvorderst das Ziel, Prozesse über die gesamte Wertschöpfungskette zu verknüpfen, Marktstrategien der Wertrealisierung zu verbessern, die flexible Prozess- und Marktanpassung zu ermöglichen und die Beschäftigten hierüber zu mehr Leistung anzutreiben. Durch den Einsatz digitaler Technik verändert sich nicht das Wesen der indirekten Steuerung, aber sie wird dadurch scharf gemacht und effektiviert. Sie liefert entschieden wirksamere Kennzahlen und Rückmeldungen an die Beschäftigten, die denen kaum mehr ausweichen können und quasi einem ökonomischen Dauerbeschuss ausgesetzt sind. Wir haben eine Aktivierungsmaschinerie vor uns, die vor allem die Initiative, die Kreativität und die Intelligenz der Beschäftigten stimulieren will, zuweilen dabei in Widerspruch gerät mit anderweitigen Begehrlichkeiten, digitale Technik zur disziplinierenden Überwachung einzusetzen. Das gesundheitliche Risiko der digitalen Transformation liegt jedoch weniger in ihrem panoptischen Potenzial permanenter Überwachung, sondern in ihrer aktivierenden Wirkung. Mit einem permanenten Soll-Ist-Vergleich vor Augen und um häufig systematisch unrealistische Ziele doch noch zu erreichen, laufen Beschäftigte Gefahr, ihre Leistung über die Belastungsgrenzen hinaus zu steigern und sich ständig zu verausgaben, ihre Arbeitszeit zu entgrenzen und ihre Gesundheit zu gefährden.

Daraus erwachsen ziemlich schwierige Herausforderungen für die Gestaltung guter oder humaner Arbeit: Dies sei abschließend kurz am Beispiel der ambivalenten Agilitätsanforderungen an die Beschäftigten illustriert:

Agilisierung nach der reinen Lehre heißt die Entfaltung von Initiative, heißt „Sprints“ und Selbstorganisation in den Teams, heißt Projektifizierung der Arbeit, heißt SCRUM und Meetings wie Dailys, heißt Empowerment und Optimierung. Für sich genommen und auch in der Wahrnehmung von Beschäftigten verbinden sich mit „agilen Strategien“ so durchaus positive Erfahrungen: die Entfaltung von Initiative, mehr Selbstorganisation der Teams, Empowerment und Optimierung sind alles auch Phänomene, die die Beschäftigten zunächst in ein selbstbestimmteres und selbstorganisiertes Verhältnis zu ihrer Arbeit bringen. Unter den Bedingungen von Vermarktlichung und indirekter Steuerung werden agile Methoden in einen anderen Kontext gesetzt und drohen die positiven Seiten der Agilität in ihr Gegenteil verkehrt zu werden: in Überforderung und Gefährdung der Gesundheit. Agilisierung heißt dann das Unmögliche möglich machen, heißt Überarbeit, heißt Benchmark und Audit, Multitasking und Hybridisierung, heißt Entfesselung und Entgrenzung.

Sich tatsächlich ohnmächtig fühlen und trotzdem agil sein müssen, in diesem Widerspruch lebt und leidet der moderne Beschäftigte. Die Konsequenzen, die dieses neue Steuerungs- und Herrschaftsprinzip für die Psyche hat, sind durchaus gravierend. Der vielfach konstatierte Anstieg psychischer Belastungen in der Arbeitswelt lässt sich genau in diesem Zusammenhang der Ausweitung und Zuspitzung digital unterstützter indirekter Steuerung deuten.

Die Belastungskonstellationen des marktorientierten Steuerungsmodus sind bereits gut dokumentiert. Kennzeichnend ist insbesondere eine Überlastung, die sich aus dem Auseinanderdriften von marktbezogenen Anforderungen und fremdgesetzten Ressourcen ergibt. Mit digitaler Vernetzung verschärfen sich diese Bedingungen.

Schon früher thematisiert sind auch die Konflikte die sich mit diesem Steuerungsmodus verbinden. Auch hier scheint sich mit dem Einsatz digitaler Technologien der Konflikt zwischen notwendiger Autonomie, unternehmerischer Verantwortung und den daraus resultierenden Freiheitspielräumen und den weiterhin einschränkenden Rahmenbedingungen zuzuspitzen. Inwieweit aus diesen Konflikten nicht ein höheres psychischen Belastungslevel sondern auch interessenpolitische Auseinandersetzungen entstehen, die zu betrieblichen und dann auch zu gesellschaftlichen Forderungen und Aktionen führen ist gegenwärtig schwer einzuschätzen. Es wird u.a. davon abhängen, ob neben den bereits etablierten „Sachzwang Markt“ nun auch noch der „Sachzwang Digitalisierung“ tritt und so die Ohnmacht verstärkt oder ob Risse und Brüche in diesen Sachzwängen neue interessenpolitische Räume eröffnen.

Seite 1 von 2